Der französische Forscher Henri Mouhot stößt sich bei einer Schmetterlingsjagd den Kopf, blickt auf und steht erstaunt vor den vergessenen Tempelanlagen von Angkor Wat. Rund hundertfünfzig Jahre später tobt in Thailand die Revolution der Rothemden, und in Kambodscha wird »Duch«, dem Leiter des Foltergefängnisses der Roten Khmer, der Prozess gemacht.
Auf einer packenden Spurensuche durch das letzte Jahrhundert entfaltet sich zwischen Königen und Bauern, Generälen und Kommunisten das Drama der kambodschanischen Geschichte.
Kampuchea wurde vom Magazin Lire zum besten französischen Roman 2011 gewählt.
Im Jahre 2010 reist der Autor den Mekong vom Delta hinauf bis an die Grenze nach China. Er lässt uns teilhaben an seinen Impressionen von Straßen, Bars, Märkten, den vorbeifließenden Landschaften, der Kakophonie von Geräuschen, Gerüchen und Farben. An der grandiosen tropischen Natur, faszinierend und beängstigend zugleich.
Er führt uns ein in die Geschichte Indochinas, die den meisten von uns unbe- kannt sein wird bis auf Schlagworte vielleicht wie Angkor Vat, die französische Schlacht von Dien Bien Phu, den amerikanischen Vietnamkrieg, Coppolas Apokalypse Now, Pol Pot und die Killing Fields. Und vielleicht noch Marguerite Duras, die im seinerzeit französischen Indochina geboren wurde.
Durch die minimalistischen Kurzbiographien, teilweise miteinander verflochten, werden wir Zeuge von politischen und kulturellen Umwälzungen. Lebensepisoden von Henri Mouhot, ein Insektenforscher, der 1860 Angkor Vat (wieder) entdeckte, ergriffen von der verfallenen Imposanz der Tempel: ein Narrativ der Steine aus dem 9. Jahrhundert. Angeblich soll Angkor Vat im 12. Jahrhundert eine Million Einwohner gehabt haben, die größte Stadt der Welt. Ob es damals wohl schon Volkszählungen und statistische Auswertungen gab? Prinz Sihanouk von Kambodscha, der aus Phnom Penh das Paris des Fernen Ostens machen wollte und zu einem Verräter wurde und Salto War alias Pol Pot, der mit seinen Freunden und politischen Weggefährten in Paris studiert und das Leben des La douce France genossen hatte. Ho Chi Minh, der wie die Rote Khmer-Elite in Paris studiert hatte, ein Mann mit der unbeugsamen Geschmeidigkeit eines Bambus. Aber auch von Unbekannten wie dem Maler Vann Nath, der Portraits von Pol Pot in unermüdlicher Serienarbeit erstellen musste. Vielleicht hat er Farbverfremdungen wie später Andy Warhol mit seinen Marilyn-Bildern angewandt? Auguste Pari, der bei der Marine begann, an einem Post- und Telegraphenposten seinen Dienst tat, sich zum Naturkundler wandelte und später die Telegraphenverlegung von Phnom Penh beaufsichtigte und zum Königsberater avancierte. Francois Ponchaud, ein katholischer Priester, der die Khmer-Sprache erlernt und die Codes und Chiffren der Roten Khmer entziffert hatte. Sein anprangerndes, 1977 veröffentlichtes Buch „Kambodscha im Jahre Null“ fand weder bei Amnesty International noch in Washington Gehör. Wir erfahren von dem kambodschanischen Schriftsteller Kong Bunchhoeun, 2016 verstorben, der über 120 Bücher geschrieben hat, Filme gemacht hat, gemalt und gedichtet und komponiert hat.
Andere Namen fallen wie Blätter von einem Herbstbaum: Pierre Loti, André Malraux, Joseph Conrad mit Walter Kurtz und Lord Jim, Graham Greene und Der stille Amerikaner. Graf Pierre Savorgnan de Brazza, nach dem eine Hauptstadt benannt worden ist (Republik Kongo).
Almut Scheller-Mahmoud - Kampuchea von Patrick Deville
Und immer das verbindende Hauptthema. Die diktatorische und genozidale Herrschaft der Roten Khmer mit der Angka, einfach nur Die Organisation, allgegenwärtig, mysteriös. Mit ihrer ideologischen Vermischung von Rousseau und Marx und dem buddhistischen Denken. In den vier Jahren der Herrschaft eines steinzeitlichen Kommunismus wurden fast 2 Millionen Menschen umgebracht, gefoltert, vernichtet. Die Tötungsmaschinerie der Menschheit ist unersättlich. In den Gulags und im maoistischen China starben Millionen durch Arbeitslager und Verhungern, die Nazis vernichteten 6 Millionen Juden (von den politischen Gefangenen, den Homosexuellen, den Roma und Sinti und den russischen „Untermenschen“ abgesehen), in Ruanda in kürzester Zeit fast eine Million Menschen.
Massengräber der Grausamkeit einer Tabula rasa: Phnom Penh verschwindet vom Erdboden mit seinen Ärzten und Anwälten, Optikern und Künstlern, Leh- rern und Studenten. Es gibt keine Gerichte mehr, keine Schulen, keine Kran- kenhäuser, Kinos, Cafés, keine Post und kein Telefon. Es gibt keine Gesetze mehr. Nichts Gedrucktes. Eine Revolution, die nicht zu einem bürokratischen Monster mit 1001 Formularen wird, sondern dem buddhistischen Samsara-Rad folgt: Leben und Sterben. Menschen werden zu Dünger für die Reisfelder. Es gibt Zwangsarbeit, Krankheit, Folter, Hunger und Kannibalismus.
Aber Deville informiert den Leser auch über die Vorgeschichte dieser stein- zeitlichen Massaker. Der weiße Mann mit seinem wahnsinnigen europäischen Traum der Überlegenheit über alle anderen Kulturen und Völker. Vom Opium- krieg mit China, in dem die französischen und englischen Truppen wie die Vandalen den Pekinger Sommerpalast plünderten. Taliban und IS sind auch da nur Nachahmer.
Die Prozesse gegen Pol Pot alias Duch und Kaivag Gucke Eva, den Gefängnis- wärter, der für 14.000 Opfer verurteilt wurde. Ein unscheinbarer, gewissen- hafter mittlerer Beamter, der seine Pflicht erfüllte, pünktlich, streng und bieder. Da tauchen Assoziationen auf zur „Banalität des Bösen“ und Adolf Eichmann.
Eine Lektüre wie ein Kaleidoskop, bunt und farbig, aber eben nicht nur schön. So erliest man sich in kurzen Kapiteln, die Zeiten und Orte wechseln, die Ahnung eines Gesamtbilds einer komplexen kulturellen und politischen Andersartigkeit. Deville vereint in diesem Buch Reportage, Biographie, Prosa, Reisebericht und auch Autobiographisches. Seine Neugier auf das Heute und das Gestern, die Verknüpfungen von Menschen und ihren Biographien, Menschen, die sich oft nicht kannten und sich doch gegenseitig beeinflussten. Verknüpfungen von Tätern und Opfern. Von Kolonisierten und Kolonisatoren. Von den alten Eliten und den neuen Globalisierungsgewinnern. Für Deville sind Reisen und Schreiben unabdingbar miteinander verwoben, um so Knoten für Knoten des Heute und des Gestern knüpfen zu können. Für ihn gilt nicht das Zitat von Pascal’s Zimmer.
Die Geschichte vom Flügelschlag des Schmetterlings, der viele Tausend Kilometer entfernt und Jahrzehnte später eine Katastrophe auslöst, ist das perfekte Motto für diesen geschichtsträchtigen Roman.
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